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Wort zum Sonntag: Scherben

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Gefunden in HerzigesNachdenkliches

Wort zum Sonntag: Scherben

Meine gedankliche Antwort zum Poetry-Slam-Video von Julia Engelmann. Auch zu lesen auf:
http://phan-thomas.de/2014/01/wort-zum-sonntag-scherben/

Fast 30 bin ich jetzt, und wenn ich gerade mal wieder glaube, doch erst gestern noch fürs Abitur gelernt zu haben, während iTunes dieselben alten Lieder spielt, dann muss ich nur die geteilten Fotos alter Weggefährten durchklicken, um mir selbst den Spiegel vorzuhalten: Aus Partyfotos sind oft genug gemütliche Bierrunden geworden, statt Haargel schimmert die Kopfhaut dank Blitzlicht in die Smartphone-Kamera, statt rotgeäderter Augen von zu viel Wodka-O sind da randlose Brillen und kleine Fältchen ums Lächeln herum. Die ersten bekommen Kinder und heiraten das erste Mal oft genug in genau dieser Reihenfolge. Bei so vielen Impressionen bin ich auch gefühlt mit ganzer Wucht in meinem Alter angekommen. Ich stehe vor dem größten scheiß Scherbenhaufen, den man sich nur denken kann: Zehn Jahre seit der großen Sause, dem Verlassen des elterlichen Nests. Zehn Jahre seit Beginn der Möglichkeit, die eigenen großen Träume verwirklichen zu können, und bis auf mehr Kaffee und noch höhere Geheimratsecken scheint sich seitdem kaum was verändert zu haben. So viel Zeit, so viel Verschwendung, der Besen kann gar nicht groß genug sein.

Und so zerren wir wie die Irren an unseren zum Bersten aufgeblasenen Chancen, um noch irgendwas gebacken zu kriegen. Uns lebt kein MTV mehr vor, dass wir alle Rockstars und Supermodels sein können, wenn wir nur den Hintern hochkriegen und es auch wirklich ganz, ganz doll wollen. Es ist viel leichter: Unsere Castings finden auf dem heimischen Sofa statt. Die Jurys heißen YouTube und Co. Wir müssen nur unsere Seele verkaufen, unsere Intimsphäre offenbaren. Wir bloggen uns die Finger blutig, und schmeißen alles den Massen zum Fraß vor, während die große Chance unseres Lebens nur ein paar hundert Likes um die nächste Ecke wartet. Die ganze Welt empfängt uns mit offenen Armen, und je mehr die Zahl unserer Möglichkeiten aus allen Nähten platzt, desto mehr prokrastinieren wir stattdessen, zerkloppen bunte Bonbons in Smartphone-Spielen, wühlen uns durch Myriaden von Katzenbildern und RTL-Sendungen, weil wir unser eigenes Next Big Thing auch morgen noch starten können. Und kommt mir bloß nicht mit Verantwortung.

Das ist symptomatisch. Ich bin ein Kind der Generation Y. Wir sind nicht im Schatten einer globalen Hoffnungslosigkeit aufgewachsen wie unsere Vorgängergeneration. Wir haben den Grunge nicht gelebt, wir haben ihn genossen. Wir sind mit so viel westlichem Wohlstand gepampert worden, dass die meisten von uns fürs naturweiche Hinterteil unseren Lebtag lang kein Sitzkissen mehr benötigen werden. Die popkulturellen Hervorkömmlinge so viel gemütlicher Erste-Welt-Dekadenz heißen nicht Kurt Cobain, sie heißen Justin Bieber und Miley Cyrus. So sinnentleert wie deren Liedtexte über Herz und Schmerz erscheint uns unser Eloi-Dasein, und wenn uns in den ruhigen Momenten die Gedanken-Morlocks fressen, dann quält uns wieder einmal die große fette Frage nach dem Sinn des Ganzen. Die Sorgen der Sorglosen. Wir klammern uns ans Carpe diem wie an einen rettenden Strohhalm, als müssten wir sonst ersaufen ersaufen in der Bedeutungslosigkeit unserer eigenen Zeitgeschichte. Aber ach, es ist eben alles so bequem. Die Miete ist bezahlt, der Job erlaubt keinen Höhenflug, dafür bleibt aber noch Zeit fürs Kino. Und trotzdem ist da diese Angst, dass neben der eigenen Asche nicht mal mehr ein Fußabdruck zurückbleibt. Dagegen hilft eben auch kein neues Jahrtausend.

Drum suchen wir unser Heil im Augenblick. Wenn die Leute meiner Generation sich wünschen, ganze Nächte vor Freude schreiend auf Dächern zu verbringen, bis die Wolken wieder lila sind , dann vergessen sie oft, dass so eine Nacht in luftiger Höhe bis zum schönsten Moment des Sonnenaufgangs beschissen kalt sein kann. Man muss die Sehnsüchte fühlen, um sie zu verstehen. Aber man muss sie sich auch ein bisschen erfüllt haben, um zu wissen, dass die Ziele aller Wünsche und Träume nicht nur weiß sind, sondern dass sie auch graustufig sein können und dass auch die Abstufungen kurz vorm Schwarz immer noch zum Grau gehören. Und dass dieselben Sehnsüchte immer wiederkehren. Wie oft habe ich mir vor den geilsten Augenblicken des Lebens einfach nur ein warmes Bett gewünscht, eine heiße Tasse Tee, ein gutes Buch und ein bisschen Ruhe? Aber solche Nebensächlichkeiten färbt hinterher die menschliche Erinnerung schön, bis nur noch der geilste Scheiß übrig bleibt. So wird Mittelmaß zur Legende. Und wofür das alles? Den Moment genießen um des Momentes willen, nur um keine Angst haben zu müssen, später nichts zu erzählen zu haben? Ach was! Wann ist denn dieses Später überhaupt? Und besteht es nur daraus, von den Dingen zu berichten, die mal waren? Wenn wir davon palavern, das Leben in vollen Zügen genießen zu wollen, solange wir jung sind, dann vergessen wir, dass dasselbe olle Leben auch in zwanzig, dreißig und vierzig Jahren noch tödlich ist und dass einem doch sonst nichts weiter bleibt. Nichts, außer dieses eine kleine Leben.

Aber was gibt es dagegen eigentlich zu sagen? Ich habe in mehreren großen Städten quer über die Republik verteilt gelebt. In der letzten Stadt, in Berlin, bin ich hängengeblieben. Hier bin ich jetzt auch zu Hause. Ich habe schon freiwillig den Job gewechselt, arbeite 40 Stunden die Woche in einem oft öden aber festen Beruf. So oft ich über diese Sesselfurzerei auch schimpfe, wenn ich ehrlich bin, dann bin ich als jemand, der den Straßenbauarbeitern vom warmen Büro aus mit einer Tasse Bauschaummilchkaffee aus dem WMF-Automaten zuschauen kann, ziemlich privilegiert. Das ist kein Rock n Roll, es ist aber eben auch weit ab von der Gosse. Wenn ich nach Hause komme, wartet meistens meine große Liebe auf mich, und wenn nicht, dann verlangt die Katze etwas Aufmerksamkeit. Ich habe noch niemals in meinem Leben beim Arbeitsamt anstehen müssen, und den Euro im Portmonee drehe ich nur um, wenn die mir anerzogene, provinzielle Sparsamkeit mal wieder durchscheint. Das alles sind so viele Pluspunkte, dass ich manchmal aufstehe, aus dem Fenster schaue und mich frage, ob es das jetzt war. Müsste ich jetzt abtreten, könnte ich behaupten, alle Chancen genutzt zu haben, alles richtig gemacht zu haben? Und was habe ich überhaupt erreicht? Da sind sie wieder, die Gedanken-Morlocks, die Langoliers, der Scherbenhaufen.

Die Wehwehchen lassen sich nicht abschütteln, nie ganz jedenfalls. Aber sie sind allenfalls lästig wie herumschwirrende Mücken beim Picknick im schönen Havelland. Ein vergängliches Übel. Abseits der großen Fragen blicke ich zurück und sehe alles, was mal war: Die vielen gemeinsamen Sessions vor unseren Videospielen, meine darüber schimpfenden Eltern mit ihrer Verständnislosigkeit, halbe Nächte mit genügend kaltem Bier vor der früheren Schule, wo alle lachten, wenn einer die eigenen Fürze mit dem Feuerzeug anzündete, ohne hinterher zu explodieren, gewonnene Liebe, verlorene Liebe, all die kleinen Erfolge, die großen Niederlagen, die besten Freunde und neue Bekanntschaften. Ich habe gelebt, ich habe genossen, ich habe verschwendet, und das Beste ist, ich habe genug Zeit übrig für mehr davon. Berliner Winter sind kalt. Ich bin die Generation Y. Und es lohnt sich, hier im Sommer auf die Straße zu gehen. Wenn Asphalt und Hundekacke dampfen und die Sonne brennt, dann ergibt so ein Scherbenhaufen manchmal ein wunderschönes, bunt glitzerndes Mosaik. Ganz ohne Zutun. Einfach danebenstehen und genießen. Für Angst bleibt auch später noch Zeit.


LikeTeilenMeldenInfo     von Elbino   am 28.01.2014 um 20:20 Uhr
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